DEPRESSION UND GESELLSCHAFT Wie wir leben und wie wir diagnostiziert werden
Evangelische Akademie Meißen, 29.6.2010
ich möchte etwas zu den sozialen und gesellschaftlichen Seiten eines Phänomens sagen, das
sich „Volkskrankheit“ Depression nennt oder das Depression zu einer Massenerscheinung
erklärt. Zu einem Phänomen, das Jahr für Jahr mehr Menschen als psychisch
Es liegt mir fern, das innere Leiden eines Menschen mit Depressionen beschwichtigend
herabmildern zu wollen. Im Gegenteil. Während meiner beruflichen Tätigkeit in der
Psychiatrie habe ich viele Menschen beraten und begleitet und tue das heute noch. Welch
unerträglicher Zustand die bleierne Antriebslosigkeit, die innere Leere sein kann – das habe
ich bei vielen Menschen gespürt. Gesehen habe ich aber auch, dass eine wirkliche Hilfe
gerade für die schwer Betroffenen nur marginal möglich war. Und das liegt meines Erachtens
zum einen an einer eingeschränkten Sicht auf die Betroffenen durch die psychiatrische
Wissenschaft: Für diese sind Depressive Stoffwechselgeschädigte. Zum anderen an einem
Umbau unseres Gesundheitswesens zur Gesundheitsindustrie mit all ihren Auswirkungen der
Kostenberechnung, Effektivitätsgeboten und einem unglaublichen Standardisierungswahn. Es
ist schlicht keine Zeit da, um sich angemessen um die Geschichte des jeweils besonderen
Schicksals des Einzelnen zu kümmern. Dafür verfügen wir über ein erkleckliches Sortiment
von Psychopharmaka, von dem inzwischen die meisten Leidenden abhängen.
Mein Anliegen ist es, eine Lanze dafür zu brechen, Depression nicht als eine kommende
Volkskrankheit zu fürchten; wir sollten Depression eben nicht als medizinische, sondern als
gesellschaftliche Aufgabe begreifen, in die wir alle verwickelt sind.
In den späten 90er Jahren ist in der öffentlichen Diskussion erstmals die Rede von einem
besorgniserregenden Anstieg der Anzahl von an Depression Erkrankten. Die WHO hatte 1993
eine Untersuchung auf den psychischen Zustand der Weltbevölkerung (!) in Auftrag gegeben.
Schaut man sich die Methode dieser Untersuchung an, dann war dies eine Massenbefragung.
Wie bei allen Fragebögen (Marktanalyse) wurden die angekreuzten Fragen dann in einem
Schema ausgewertet. Vieles wäre hier zur Problematik eines solchen Vorgehens zu sagen.
Beispielsweise rechnete die WHO mit sogenannten „gelebten Jahren mit Beeinträchtigung“
(YLD), die multipliziert werden mit dem Befragungsergebnis und als Rechenergebnis die
verheerende Tatsache eines unglücklichen Lebens präsentieren, das es laut WHO wohl nicht
geben darf. Seelische Gesundheit wird nämlich laut WHO als „subjektives Wohlfühlen,
Fähigkeit zur Autonomie und Möglichkeit der Selbst-Aktualisierung des eigenen
intellektuellen und emotionalen Potentials“ beschrieben. Abweichung von diesem Ideal
bedeutet, die Gesellschaft wird durch „nicht gelebtes Leben“ belastet. Ergebnis jedenfalls der
Studie der WHO aus den 90er Jahren: Jeder 10. Leidet an Depressionen und belastet damit die
Nationale Untersuchungen nach dem gleichen Muster folgten. Das Jahresgutachten der
Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen beschäftigt sich 2001 mit dem Thema Depression
und kommt auf ähnliche Zahlen wie die WHO sie vorgegeben hat. 11,5 % unserer
Bevölkerung leide an depressiven Episoden und insgesamt 32 % der Bevölkerung an einer
wie auch immer gearteten psychischen Störung.
Und so kommt die These der Volkskrankheit langsam in den Fokus der öffentlichen
Aufmerksamkeit. Die Zahlen steigen und steigen. Und die Zeit schreibt 2004: Je nach
Definition erfüllen jedes Jahr vier bis acht Millionen Deutsche die Kriterien einer
behandlungswürdigen Depression. Europaweit sind es 33,4 Millionen. Jeden zehnten
Deutschen – manche Studien sprechen sogar von fast jedem fünften – wird die Schwermut
mindestens einmal in seinem Leben überwältigen. Jeder Sechste von ihnen wird daran
Man muss angesichts einer solchen Berichterstattung tatsächlich ins Bewusstsein rücken:
Depression ist wie der Schmerz ein ganz subjektives Empfinden. Depression ist nicht
messbar, es gibt keinen chemischen Indikator, kein Substrat für Depression. Die Ergebnisse
der Befragungen spiegeln höchst unterschiedliches Erleben wieder und tun dann so, als hätte
man es mit Gleichem zu tun. Man kann eben auch einen Blick werfen auf andere Zahlen, z.B.
wie hoch ist der Anteil von Beschäftigten, die wegen Depressionen krank geschrieben
werden? Dieser Anteil liegt in Deutschland noch nicht mal bei 3,2 Prozent. Allerdings dauern
diese Krankschreibungen in der Regel ziemlich lang, sodass für die Krankenkassen höhere
Kosten entstehen und dann wird diese geringe Zahl doch für die Kassen zu einem
ökonomischen Problem und entsprechend in den Berichterstattungen dargestellt. Sie sehen
also: All diese Zahlen sind höchst fragwürdig und doch: Sie formulieren irgendwie für uns
eine Wahrnehmung, an der etwas Richtiges dran zu sein scheint.
Ist es denn nicht wirklich so, dass sehr viele Menschen trauriger, niedergeschlagener,
hoffnungsloser, depressiver sind als noch vor 20 Jahren? Oder benennen wir das nur so, weil
die Zeitungen voll sind vom Massenphänomen Depression? Sind wir überfordert durch den
allzu schnellen, allzu flexiblen Sprung ins digitale Zeitalter (das ist eine These des
französischen Soziologen Alain Ehrenberg). Sind wir nicht andererseits unterfordert, weil wir
als Arbeitende gar nicht mehr gebraucht oder – auch im Dienstleistungsbereich – nur noch
Bediener von Software sind? Sind wir durch den hemmungslosen und globalisierten
Kapitalismus entwurzelt, enteignet – zum Spielball wirtschaftlicher Global-players
geworden? Allerdings: warum mündet das dann in Depression und Schwermut statt in
Empörung und Widerstand? Und warum ist das Ganze überhaupt ein medizinisches Problem?
Haben wir es dem medizinischen Fortschritt zu verdanken, dass wir nun endlich wissen, dass
es die Neurotransmitter sind, die versagen? Sind unsere Neurotransmitter nicht tauglich für
die Postmoderne? Oder lässt sich vielleicht aus der Depressions-These im Gesundheitsmarkt
ein rentables Geschäft machen und unsere angeblichen Verhaltens- und sonstigen Störungen
sind Futter für das Laufen eines Wirtschaftssektors, der immerhin 10 Prozent des jährlichen
Sie sehen, Fragen über Fragen. Und auf jeden Fall ein Hinweis darauf, dass über Depression
immer mit einem bestimmten Interesse geprochen wird – darauf sollte man achten. Die
Fragen deuten schon an, dass wir uns hier auf einem verschlungenen Weg befinden. Meine
These: Depression ist beides: sie ist „gemacht“ im Sinn einer Medikalisierung – darauf
komme ich noch zu sprechen – und sie ist eine Reaktion, ein Kind unserer Zeit, unserer
Wenn sich bei FoxConn in China – dem Hersteller der weltweit vertriebenen I-Phones – seit
Jahresanfang 10 Mitarbeiter umgebracht haben, wird jeder sagen, dass dies an den
unmenschlichen Arbeitsbedingungen, der gnadenlosen Verwertung und Kasernierung der dort
Beschäftigten liegt. Ähnliches wird für Japan berichtet. Auch in Frankreich machten die
Firmenselbstmorde und jüngst der Selbstmord von Schülern Schlagzeilen. Tatsächlich
leuchtet uns ein Zusammenhang mit dem zunehmenden Druck und der Schikane in
Arbeitswelt und Schule sofort ein. Schwieriger ist es schon, diese Zusammenhänge an den
ganz üblichen Befindlichkeits- und Stimmungsstörungen festzumachen, die eine immer
größer werdende Gruppe von Menschen in die ärztliche Behandlung und
Wie wir leben.
In unserer heutigen Gesellschaft ist die radikale Vereinzelung Programm. Sich als der oder
die Erfolgreiche gegenüber der Konkurrenz durchzusetzen wird schon 9. Klässlern als
Lebensprinzip empfohlen. Im Internet kursiert seit einiger Zeit das Papier eines „unsichtbaren
Kommitees“ – Verfasser anonym - , das eine Analyse unserer Zeit erstellt und zum
kommenden Aufstand aufruft. Darin fand ich einige höchst bemerkenswerte Sätze. „Ich bin
Ich“ lautet das leere Credo unserer Epoche. Der Befehl, „man selbst“ zu sein, zeigt, dass diese
Gesellschaft nur noch als Bindeglied möglichst voneinander unabhängiger Monaden
zweckdienlich sein kann. Das zeugt von einer äußersten Schwäche des Gemeinschaftlichen.
Jeder soll stark sein und gerade das erzeugt die Schwäche des Zusammenhalts. Alles scheint
einen therapeutischen Charakter anzunehmen – Arbeit, Schule, sogar die Liebe – um die
Stärke des Einzelnen zu festigen, zu formen. Sozialität, so die Autoren, verkommt zu einer
Vielzahl von Nischen, in denen ein jeder Schutz sucht. „Ich bin Ich“ ist ein Schrei, der gegen
all das gerichtet ist, was zwischen den Menschen existiert.1
Und ist es nicht so? Die heute geforderte größtmögliche Flexibilität und Verfügbarkeit lässt
die Fähigkeit verkümmern, sich an etwas oder jemanden dauerhaft zu binden, unterminiert
das Vertrauen. Die Zukunft ist ein Projekt, das wir schon im frühen Alter angehen müssen.
Studierende haben mir gesagt, dass sie möglichst schnell abschließen wollen, damit das „im
Lebenslauf gut aussieht.“ Auch ein Jahr rumgammeln oder einfach mal was anderes
ausprobieren kommt nicht in Frage, weil das Bild des zielstrebigen Erreichens getrübt werden
könnte. Die ängstliche Besorgtheit um Körper und Psyche nimmt mittlerweile einen
wichtigen Stellenwert in der Lebensführung ein, weil ein zeitweises Herausfallen aus dem
Konkurrenzgeschäft als immer bedrohlicher empfunden wird.
Alles, was hier beschrieben wird, entspricht dem Lebensgefühl, das die anthropologischen
Psychiater Binswanger, v. Gebsattel und Glatzel als typisch für depressive Wahrnehmung
protokolliert haben. Folgt man ihren Überlegungen, dann ist Depression in erster Linie eine
Verlusterfahrung. Man verliert den Kontakt zum anderen Mitmenschen, verliert den Kontakt
zur erfahrbaren Welt, zur Zukunft als offene Zukunft, zum eigenen Körper als
selbstverständlich verlässlich. Insofern kann man schon sagen, dass unsere Zeit und
Lebensweise ein „Normalverhalten“ produzieren, das der Depression in gewisser Weise sehr
nahe kommt. Dies allerdings den traurigen, schwermütigen und niedergeschlagenen unserer
Tage als eigene Verantwortlichkeit in die Schuhe zu schieben, ist im Grunde eine
Verdoppelung der Ver-selbst-ung und verschärft deren Alleinstellung, anstatt einen Weg
daraus zu finden. Und damit sind wir bei der Medizin.
Wie wir diagnostiziert werden
Wer heute zum Arzt geht, wird eher als depressiv eingestuft, als noch vor 20 Jahren. Warum?
1 Vgl. The Invisible Committee: The Coming Insurrection. www.freitag.de/kultur/1020-ein-linkes-manifest-als-bestseller
Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen wurde seit den 70er Jahren verstärkt an
einer Standardisierung psychischer Erkrankungen gearbeitet. Psychologische Testbögen
bekommen ein immer größer werdendes Gewicht in der Diagnostik. Heute gibt es bezogen
auf die Depression eine ganze Anzahl davon: die Hamilton-Skala, die allgemeine
Depressionsskala, Beck-Depressions-Inventar, Skala antidepressiver Gedanken, Test zur
Erfassung der Schwere einer Depression, Erlanger Depressionsskala usw. In ihnen werden
Parameter abgefragt und die Bögen ausgewertet. Der Psychiater Alexander Mitscherlich
meint zum Ausbau der Experimental-Psychologie bereits Ende der 60er Jahre: „Was dabei
ermittelt wurde und ermittelt wird, sind seelische Einzelleistungen und Elementarfunktionen,
die so lange aufbereitet werden, bis sie quantifizierbar sind. Verstehen ist im Jargon dieser
Psychologie ein suspekter Terminus.“2 Dazu kommt, dass die Kriterien für das Vorliegen
einer Depression im Laufe der Jahre weicher geworden sind. Selbstmordgedanken z.B. sind
heute kein Kriterium mehr für das Vorliegen einer Depression. Wer Appetitstörungen hat,
über Schlaflosigkeit klagt, oder von „Grübelneigung“ geplagt wird, schnell ermüdet oder eine
pessimistische Einstellung hat muss mit einer Depressionsdiagnose rechnen. Kritische
Stimmen mahnen schon an, dass es eine Entgleisung sei, nahezu jeder psychischen
Befindlichkeitsstörung einen Krankheitswert zuzuschreiben. Die Zahl der
Krankheitskategorien im internationalen Diagnoseschlüssel stieg von 180 Anfang der 70er
Jahre auf heute fast 400 an. Bekannte Beispiele sind die sog. Anpassungsstörung (was alles
sein kann) oder die Prokrastination (Verhalten, Unangenehmes aufzuschieben), die Angst
nicht attraktiv zu sein, und natürlich das Hyperaktivitäts-Syndrom. Die „leichte depressive
Episode“ wäre das Pendant in Bezug auf unser Thema.
Der andere Grund für eine Ausweitung der depressiven Diagnose liegt an der Entwicklung
eines neuen Psychopharmakons, das unter dem Namen Prozac Ende der 80er Jahre in den
USA vorgestellt wurde. Prozac wurde als Glückspille angepriesen. Sein Wirkstoff nennt sich
SSRI und in Deutschland kennen wir diese Stoffgruppe unter den Namen Fluctin, Cipramil,
Zoloft, Remergil oder Trevilor. Prozac warb damit, nicht nur gegen die Schwermut, sondern
auch gegen Angst und Unsicherheit zu wirken, versprach Leistungssteigerung und
Gewichtsabnahme. Somit lag es ganz im Trend der wirtschaftsfixierten neoliberalen Botschaft
der Selbstoptimierung. Der Rad-Profi Jesus Manzano berichtete 2007 in einem Interview von
seinen Erfahrungen mit Prozac. „Die Pillen machen dich härter, sie vertreiben den Hunger, sie
erzeugen ein euphorisches Gefühl“. 9 Pillen hat er täglich genommen, um lange Strecken so
zu überstehen, dass ein quälendes Körper ausgeschaltet wird.
2 Alexander Mitscherlich: Krankheit als Konflikt. Studien zur psychosomatischen Medizin. Frankfurt, 1966.
Im Zeitraum von 1992 bis 2006 hat sich die Verschreibung von Antidepressiva in
Deutschland verdoppelt. In Frankreich hat sich die Verschreibung innerhalb von 20 Jahren
versiebenfacht (1981-2001). Laut einer Marktanalyse der Deutschen Bank aus dem Jahr 2002
gelten Antidepressiva neben Viagra und Antifett-Mitteln bei Kapitalanlegern als Lifestyle-
Droge. Im Marktbericht heißt es: „Das bisher lohnendste Geschäft im gesamten Lifestyle-
Segment ist der Boom mit Anti-Depressiva.“.3
Wer heute zum Arzt geht, wird schneller und länger auf Psychopharmaka eingestellt. Die
Verschreibung von Anti-Depressiva ist zur Standard-Behandlung geworden, bei der häufig
behauptet wird, die Stoffwechselstörung, auf der die depressive Störung beruhe sei lebenslang
wirksam und deshalb müsse das Medikament auch lebenslang eingenommen werden. Eine
Ärztin an meinem Krankenhaus meinte zu einer Patientin, sie müsse das sehen wie eine
Zuckererkrankung. Das sei kein Unterschied. Ziel ist hier erklärtermaßen nicht die Heilung,
sondern die richtige Kalibrierung. Psychopharmaka werden heute nicht nur wesentlich länger,
sondern eben auch wesentlich länger eingenommen. Die Nebenwirkungen werden
Tatsache ist: Depressionsdiagnosen nehmen trotz massenhaften Pillenkonsums nicht ab,
sondern zu. Es gibt Studien, die von einem Gewöhnungs-, gar Abhängigkeitseffekt bei
Antidepressiva sprechen. Patienten, denen es nach Absetzen des Antidepressivums schlechter
geht, machen möglicherweise einen schmerzhaften Entzugsprozess durch, interpretieren
diesen aber als Rückfall in die Depression. Im Februar 2009 veröffentlichte das Pentagon
Zahlen zum psychischen Gesundheitszustand von US-Soldaten in Kriegsgebieten. Eine hohe
Selbstmordrate und der massenhafte Konsum von Antidepressiva gehören offensichtlich zum
Alltag. Dieser Konsum, so die Befürchtung der Militärpsychologen, könne allerdings als
Nebenwirkung Selbstmordgedanken auslösen. Ein Antidepressivum, das depressiv macht?
Ähnliches musste in Großbritannien festgestellt werden. Dort ist es seit 2003 verboten,
Kindern unter 18 Jahren Paroxetan (Antidepressivum der neuen Generation) zu verordnen, da
ein „3,2-faches Selbstmordrisiko“ bestand. Sechs britische und amerikanische
Wissenschaftler legten 2008 eine unbequeme Metastudie vor, die Daten der amerikanischen
„Food and Drug Administration“ zur Wirkung der neuen Generation von Antidepressiva
nachrechnete. 47 klinische Studien wurden von ihnen unter die Lupe genommen. Unter
Berücksichtigung aller Datensätze und damit einer breiteren Datenmenge, als bislang
veröffentlicht, ergab sich, dass der Effekt der neuen Antidepressiva unter der verlangten
3 Uwe Perlitz: Deutsche Bank Research: Pharma-Markt, Run auf Lifestyle-Drugs von Demografie verstärkt. www.dbresearch.de
klinischen Signifikanz liegt. Unterschiede der antidepressiven Wirkung zwischen Placebo
(Scheinmedikament) und Medikament sind so gering, dass eine echte antidepressive Wirkung
Für Hausärzte ist die Depressions-Diagnose gut, denn sie können dann einen höheren Satz mit
der Krankenkasse abrechnen. Im neuen Abrechnungssystem werden sie den Patienten auch
bescheinigen, dass die Depression chronisch ist, damit die Behandlung besser bezahlt werden
kann. Für Patienten ist die Diagnose gut, weil sie dann etwas länger krank geschrieben
werden als bei Magenschmerzen oder Einschlafproblemen.
Volkskrankheit Depression – wem hilft diese Feststellung? Wollen wir wirklich, dass ein
immer größer werdender Teil der Menschen – teilweise schon mit Beginn der Kindheit –
dauerhaft unter psychopharmakologische Behandlung gestellt wird? Wollen wir es tatsächlich
akzeptieren, dass sich jeder Einzelne für seine falsch kalibrierte Gehirnchemie allein
verantwortlich fühlt und sein Leben danach ausrichtet? Im November letzten Jahres hat sich
der Profi-Fußballer Robert Enke das Leben genommen. Viel wurde damals über das Thema
Depression diskutiert. Ich möchte da einen Leserbrief zitieren, auf den ich zufällig stieß: Da
schreibt Pastoralpsychologe Weimer aus Fiefbergen: „Dass jemand eine Depression als eine
Krankheit ‚hat’, ist eine Vorstellung, die den leidenden Menschen zusätzlich aus seiner
Mitwelt isoliert. Wenn es beispielsweise stimmt, dass Robert Enke von Kindheitstagen an
unter der Angst gelitten hat, höchsten Anforderungen nicht gerecht werden zu können: Wer
hat diese Anforderungen vertreten? Wie sind sie in ihn hinein geraten? Wer hatte Nutzen von
seiner Angst? Könnte es nicht sein, dass die ‚Diagnose Depression’ das Leiden fälschlich
individualisiert und dessen soziale Verflechtungen ignoriert, an denen wir doch alle beteiligt
sind?“ Gut gesprochen, Herr Pastoralpsychologe. Dem bliebe wenig hinzuzufügen.
Vielleicht noch: so wenig, wie man eine Depression „hat“, so wenig kann man die einfach
weg machen. Schwermut, Melancholie, Niedergeschlagenheit haben einen Sinn. Der Medizin
kann man nicht die Aufgabe übergeben, sie zu beseitigen. Da muss sie sowieso dran
scheitern. Die Sprache der Depression ist ein Symptom unserer Zeit, das durch die
Medikalisierung lediglich zur Seite geschoben wird. Wir sollten aber auf die Fragen hören,
die durch die Depressiven an uns gestellt werden.
4 Irving Kirsch et al.: Initial Severity and Antidepressant Benefits: A Meta-Analysis of Data Submitted to the Food and Drug Administration. In: PLoS Medicine, February 2008
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