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braucht der Sex?
Zehn Jahre Viagra haben das Geschlechtsleben nicht besser gemacht, aber unsere Vorstellungen von
ihm verändert. Entstanden ist vor allem eine neue Krankheit und ein Milliardenmarkt.

Wann ist ein Mann ein Mann? Diese Frage, die schon meiner Lust und Potenz auf Kriegsfuss.» Der heute 44-Jährige vor Jahren der Liedermacher Herbert Grönemeyer nahm vor acht Jahren zweimal Viagra, gekauft im Internet. stellte, ist wohl einfach zu beantworten: Ein po- Eine Krücke, eine Notlösung sei dies gewesen, das war ihm tenter Mann ist ein richtiger Mann. Und Potenz bedeutet für von Anfang an klar. Aber es war auch eine gute Erfahrung, die meisten Männer (und Frauen) – eine ordentliche Erektion. denn es habe ihm geholfen, aus dem Enttäuschungskreislauf Da männliche Potenz so eng an die Identität geknüpft ist, trifft herauszukommen. Heute würde er das vielleicht nicht mehr eine Störung in diesem Bereich einen Mann im tiefsten Inne- so machen, sondern eher therapeutische Hilfe holen. ren, sie erschüttert meist sein ganzes Selbstbewusstsein.
Von einem «seltsamen Entfremdungsgefühl» berichten auch andere, davon, dass der Penis mit dem Körper nicht richtig verbunden sei. Sexualberater Peter Schröter aus Zü- Der Penis allein macht also noch keinen Mann. Belegt wird rich: «Viagra wirkt rein physisch. Sensible Männer sagen, diese Feststellung auch dadurch, dass jede Sekunde vier Män- dass ihnen doch noch irgendetwas fehlt.» Sicher könnten ner auf dieser Erde eine Tablette wie Viagra einwerfen, in der diese Medikamente eine grosse Entlastung sein. Da für die Schweiz liegt, so der Hersteller, der Verbrauch bei rund 100 meisten Männer die Erektion wichtigster Ausdruck von Le- 000 Stück im Monat. Nur Finnland und Grossbritannen ver- bendigkeit und männliche Identität ist, werde bei einer so zeichnen in Europa einen höheren Konsum pro Kopf. Viagra genannten erektilen Dysfunktion durch Medikamente viel eroberte vor zehn Jahren die Welt – eine Sensation, denn zuvor Angst und Scham verhindert. Denn das Nicht-Können wird gab es kein Medikament, das bei einer Störung dieser Art hel- leicht zum Trauma, ein Teufelskreis beginnt: einmal nicht fen konnte. Die Nachfolgeprodukte Cialis oder Levitra liessen geklappt und die Angst, dass es wieder passiert, erhöht die auch nicht lange auf sich warten und finden ebenso reissenden Wahrscheinlichkeit, dass es wieder nicht funktioniert.
Absatz. Diese Pillen haben offenbar Millionen von frustrierten wieder zu «gestandenen» Männern gemacht, vor allem aber streicht die Pharmaindustrie riesige Gewinne ein. Sexualität braucht Nähe, Intimität und Sinnlichkeit. Da die Viagra & Co – eine Erfolgsstory? Sicher für viele, denn die Erektion über das nicht direkt mit dem Grosshirn beein- Tabletten können die Funktion des identitätstiftenden Organs flussbare, so genannte vegetative Nervensystem gesteuert meist, wenn auch nicht bei jedem, wiederherstellen. Nicht wird, wirken Stress und Unsicherheit kontraproduktiv. Die alle reagieren aber positiv. Mehr Blut in den Schwellkörpern Sexualtherapeutin Kristina Pfister sieht Viagra oder andere des Penis bedeutet noch keine Erregung, sexuelle Stimulation Medikamente ebenfalls als zeitweilige Hilfsmittel an. «Je- braucht es nach wie vor. Dort setzt auch die Kritik an. «Se- doch steckt hinter einer erektilen Unregelmässigkeit, insbe- xualität ist vielschichtig und oft auch widersprüchlich», sagt sondere bei einem Mann unter 45, meist ein Teufelskreis, der Sexualtherapeutin Kristina Pfister aus Winterthur. «Eine Pille durch Angst und geminderten Selbstwert aufrechterhalten zu schlucken, ist nur selten die einfachste Lösung.» wird. Gedanken, die sich einschleichen: Bin ich normal und gut genug? Wie stehe ich denn da, wenn es nicht klappt?» Pfister vermeidet den Begriff der «erektilen Dysfunktion», Dass sich jeder Mann mit der «Pille davor» automatisch wie denn dieser suggeriere, dass das Funktionieren das Normale ein Hengst im Bett fühlt, ist alles andere als garantiert. «Ich sei. Normal sei, dass es halt auch einmal nicht gehe. Deswe- fühlte mich durch Viagra erstaunlicherweise nicht männ- gen redet Pfister von Erektionsunregelmässigkeiten. «Das licher», berichtet Peter Berger (Name geändert). «Vielmehr Weichbleiben des Penis kann eben auch der Ausdruck einer war mir mein Penis fremder als vorher, es funktionierte halt ‹nicht-stimmigen› Atmosphäre sein.» Die Störung sei eher irgendwie. Aber tief im Inneren habe ich immer noch an mir eine Folge der Körperintelligenz. Die Therapeutin arbeitet gezweifelt. Ich fühlte mich damals nach der Trennung von in ihrer Beratung unter anderem direkt mit der Versagens- meiner Frau unsicher, ein wackeliger Zustand. Ich stand mit angst. Sie lasse sich nachhaltig Schritt für Schritt in Stärke x Der Begriff der «erektilen Dysfunktion» suggeriert, dass das Funktionieren das Normale sei. Normal ist aber, dass es manchmal auch nicht geht.
Ich fühlte mich durch Viagra erstaunlicherweise nicht männlicher. Vielmehr war mir mein Penis fremder als vorher, er funktionierte halt irgendwie. Aber tief im Inneren habe ich immer noch an mir gezweifelt.
umwandeln. Meist gehe es auch um die Angst vor der Angst. Der Leistungsdruck in der Sexualität kann durch Viagra und Und mit einer Pille sei die Angst nicht einfach aus der Welt Konsorten eher noch verstärkt werden. Der Druck steigt, se- xuell aktiver zu sein und das bis ins hohe Alter. Beziehungen Der Berner Urologe Andrea Futterlieb dazu: «Wenn man werden dadurch nicht automatisch besser. Denn wenn der von einer Funktionsstörung spricht, steht die Frage im Raum, Mann ohne vorherige Absprache eine Pille schluckt und was denn eine ‹normale Potenz› ist. Bei manchen Männern dann Sex auf Kommando will, ist das nicht gerade förderlich besteht die Angst, nicht der Norm zu entsprechen.» Geschürt für die Beziehung. Allerdings: Wer vorher kein Macho war, würde die Verunsicherung durch Imponiergehabe anderer, wird es auch nicht durch die blaue Pille.
die von sexuellen Höchstleistungen prahlen, nicht zuletzt Kristina Pfister rät, den Fokus auf die Liebesfähigkeit auch von Bildern aus Medien und der Pornoindustrie.
statt auf die Funktionstüchtigkeit zu setzen und mit «hartnä-ckiger» Gelassenheit ans Ganze ranzugehen. In ihrer Arbeit mit Männern arbeitet sie vor allem daran, dass der Betroffene Die Pillen, die für ungeahnte Höhenflüge in den Betten lernt, «seinen eigenwilligen Penis als Chance zu sehen, sich sorgen sollen, liessen manche von einer zweiten sexuellen unabhängig von Bestätigung potent zu fühlen.» Revolution sprechen. Das ist allerdings fraglich. Haben sich Ein schwieriger Weg, da scheint der Griff zur Pille beque- durch diese Medikamente Beziehungen verbessert? Können mer. «Viagra bedient den Narzissmus der Männer, denn für Pillen Ehen retten? Hat sich dadurch gesellschaftlich etwas die meisten ist die Erektion wichtigster Lebensausdruck», bewegt? Ist die «Härte der Erektion», so der Pharmahersteller so Peter Schröter. Zu bedenken sei zudem, dass Viagra nur Pfizer, wirklich so ausschlaggebend für guten Sex? Sexual- in etwa 70 Prozent der Fälle wirke. Weniger bekannt, aber therapeutin Kristina Pfister: «Die Anti-Baby-Pille hat die ebenso wirksam, ist zum Beispiel Beckenbodentraining.
Sexualität total verändert. Sie brachte Freiheit, Entspannung und Unabhängigkeit in die Sexualität. Sie hat die Angst vor der Schwangerschaft genommen. Die Medikamente für den Eine wirklich gute Botschaft zum Schluss: «Der Penis ist Mann hingegen nehmen die Angst nicht wirklich weg, die ein sensibles Organ. Diese Sensibilität ist eine Qualität und meist – ausser es liegen organische Ursachen vor – eine se- kein Manko», so Pfister. Männer sollten sich also freuen xuelle Unregelmässigkeit erst recht zum Problem macht.» über das sensible «Organ der männlichen Seele», wie der amerikanische Urologe Dudley Seth Danoff sagt. Der Penis sei ein Organ des Ausdrucks, und seine Kraft erlange er nicht nur über den Zustand seiner Blutgefässe und Nerven. Die sexuelle Leistungsfähigkeit habe damit zu tun, wie ein Mann sein «bestes Stück» wahrnehme: «Es ist das, was er von ihm hält, so potent, wie er von ihm denkt. Es lügt nie und lässt sich auch nicht austricksen.» Bücher zum Thema:
Charles Meyer, Peter A. Schröter: Die Kraft der männlichen Sexualität
– Lebensbilder für Männer. Pendo, 2003. SFr. 30.90 Walter Hollstein: Potent werden – das Handbuch für Männer. Hans Huber,
Dieter Schnack, Rainer Neutzling: Die Prinzenrolle – über die männliche
Sexualität. Vom Jungen bis zum Mann. Rowohlt, 2006. SFr. 18.50

Source: http://www.zeitpunkt.ch/fileadmin/download/ZP_95_2/95_46-48_Haerte-Sex.pdf

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