SUCHT UND SUBSTANZGEBRAUCHSSTÖRUNG ALS BIO-PSYCHO-SOZIALE PHÄNOMENE
Suchterkrankungen, suchtartiges Verhalten und Substanzgebrauchsstörungen haben nun seit einigen Jahren berechtigterweise Aufnahme in die Standarddiagnosen von ICD und DSM gefunden und somit wird ihnen „Krankheitswertigkeit“ zuerkannt. Dies ist von enormer Bedeutung, da bis vor einigen Jahrzehnten diese pathologischen Erscheinungen als „Laster und soziale Devianz“ abgetan wurden und von den Betroffenen wurde verlangt „sie mögen sich nur am Riemen reißen und sich wieder ordentlich verhalten“. Auch heute wird man noch gelegentlich mit Resten dieses Denkens konfrontiert, so tief ist man noch davon überzeugt, obwohl die Fachwelt nunmehr diesbezüglich schon länger Einigkeit zeigt. Für den Teilbereich „Sucht und Verschuldung“ ist die Kenntnis jüngerer neurobiologischer Erkenntnisse enorm wichtig, da sie ein ergänzendes Verständnis liefern, was auch gewisse „Machbarkeiten“ unter einem anderen Licht sehen lassen. Zudem muß hierbei auch die forensische Sichtweise berücksichtigt werden. In den letzten 10 Jahren hat die neurobiologische Suchtforschung große Fortschritte vor allem in den Bereichen Neurotransmitterforschung (Dopamin, GABA, Serotonin, Glutamat,.), Rezeptorenidentifikation und bildgebenden Verfahren (PET, MR, CT,.) gemacht, was uns auch zu tieferem Verständnis bestimmter Hirnregionen (ganz besonders dem limbischen System und der präfrontalen Hirnregion), welche bei der Sucht eine entscheidende Rolle spielen, geführt hat. Das „Craving“ (gleichbedeutend mit „Suchtdruck“) ist zu einem zentralen Begriff in der Suchtmedizin geworden und die neueren pharmakologischen Interventionen zielen auf eine deutliche Verminderung dieses „unwiderstehlichen Verlangens“ hin. Da dieses Verlangen fast unvermeidlich zum Rückfall drängt, rechtfertigt sich der Einsatz von Parmaka mit agonistischer Komponente ( Methadon und teilweise Buprenorphin, Gammahydroxybuttersäure, Baclofen,.), antagonistischer Wirkung ( Naltrexon, tlw. auch Buprenorphin) und gezielt psychopharmakologischer Wirkung ( Benzodiazepine, Camprosat, Baclofen, Antidepressiva, Neuroleptika und Stimmungsstabilisatoren). Die klinische Realität zeigt uns aber, dass wir es nicht nur mit „bloßer“ Sucht zu tun haben, sondern, dass sich auch Folgeerkrankungen oder primär psychiatrische Ursachen/ Zustände dazugesellen. Wir sprechen dann von Doppeldiagnosen( oder gar Mehrfachdiagnosen) und erleben auch zunehmend eine gewisse „Invalidisierung“ unserer PatientInnen, was dann für eine soziale Reintegration (und somit auf die Rückzahlungsfähigkeit bei Schulden) Auswirkungen hat. Die Mediziner haben sich in den letzten 20 Jahren in der Suchttherapie immer unverzichtbarer gemacht, mit allen Vor- und Nachteilen. Naturgemäß üben sie eher eine „Kontrollfunktion“ aus und sind gewissermaßen auch die legalen (Heil) Substanzlieferanten geworden, was eine spezielle Beziehung Patient- Arzt zur Folge hat. Diese Bezieheungen sind oft mehr „technischer“ und leicht manipulierbarer Natur und können oftmals andere Handlungsalternativen und Ressourcenaktivierung blockieren. Der Vorteil ist, dass das „Craving“ nunmehr beherrschbarer geworden ist und für die PatientInnen einige lebensbedrohliche Situationen minimiert werden. Die PsychologInnen/PsychotherapeutInnen haben im Laufe der Jahrzehnte auch ihren Wandel erlebt, von früher „encounter“ bis zu dialektisch behavorial, von intuitiv-spontan bis evidence based. Jedenfalls sind auch sie intensiv gefordert, sich in dieser Gratwanderung zwischen edukativen, kontrollierenden und verstehenden Elementen, hilfreich für die KlientInnen zu bewegen und zu definieren.
Ihr Anteil bei der „Craving“- Analyse ist die Erarbeitung der Kontextsensibilität, welche den KlientInnen eine „Erweiterung des Wissens um sich selbst“ ermöglicht. Ein neues wichtiges Feld, auch was jetzt Verschuldung angeht, hat sich nun durch die nicht stoffgebundenen Suchtverhalten aufgetan (Spielsucht, Kaufsucht, Internet, Sexsucht,.). Die sozialen Aspekte der Therapie müssen dem Wandel der Zeit gerecht werden. Die ökonomischen Spielräume werden geringer und Budgets sind erfahrungsgemäß auch keine Optionen mit Ewigkeitswert. Im Allgemeinen erfahren wir einen Wandel zur „Multiprofessionalität“ mit Qualtätskriterien, was sich als BIO- PSYCHO-SOZIALES Behandlungsteam versteht. Dazu gehören natürlich auch Methoden der Reflexion und Analyse (früher war die Supervision die einzige Methode der Qualitätssicherung), um „Effizienz- möglicht evidence based“ zu gewährleisten. Für das Thema der Verschuldung bedeutet dies, dass in diesem Team auch jemand sein muß, der zu diesem Thema entsprechend Bescheid weiß. Die Krankheitswertigkeit der Sucht, läßt uns nun auch bezüglich der Verschuldung bei Suchterkrankung eine wichtige Unterscheidung machen: Ist die Verschuldung primär? -d.h. sie hat nichts mit der Sucht zu tun (was aber selten ist) -oder ist sie sekundär ?- d.h der Schuldenstand erhöht sich durch „substanzinduziertes Desinteresse“ oder gar durch eine psychiatrisch relevante „Verkennung realer Auswirkungen“. Dass eine Verschuldung Auswirkungen auf künftige Schwerpunktsetzungen hat, ist auf der Hand liegend. Dass eine „unlösbare“ Verschuldung auch prognostisch für unsere KlientInnen einiges bedeutet, ist auch klar. Von therapeutischer Seite dieses prognostisch bedeutsame Phänomen zu vernachlässigen, wäre ein schwerer Kunstfehler. Das Projekt INDEED möchte die ProfessionistInnen auf diesem Gebiet in ihrer Wahrnehmung schärfen, ihre anamnestischen Fertigkeiten diesbezüglich fördern, um therapeutischen Interventionen eine wesentliche Ergänzung zu verleihen. Dr. Walter Tomsu, Italien „Hands“ Juli 2011
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